Vom
Prothesengott zum Cyborg
Ist Technik die
Zukunft der menschlichen Natur?
von
Marcus Hawel (sopos)
"Mein
Icarus, lass dich ermahnen! / Halte die Mitte der Bahn. Denn fliegst du zu
tief, dann beschwert die / Welle die Federn, zu hoch, dann wird die Glut sie
versengen / zwischen beiden dein Flug!" Die Warnung vor dem Höhenflug
stand bereits am Beginn der europäischen Zivilisation. Sie stammt aus
vorgeschichtlicher Zeit. Daidalos, der Kunstreiche, gab sie dem Mythos nach,
wie ihn Ovid in Versmaß festhielt, seinem Sohn Ikarus vor deren gemeinsamer
Flucht von Kreta mit auf den Weg. Ikarus aber kam der Sonne zu nahe, so dass
seine mit Wachs zusammengehaltenen Flügel aus Vogelfedern weg schmolzen und
er bei Samos ins Meer stürzte.
Die verhängnisvolle
Flucht hat eine Vorgeschichte. Daidalos hatte in Athen aus Neid seinen
Neffen, der bei ihm in die Lehre ging und Töpferscheibe, Zirkel und Säge
erfand, von der Akropolis gestürzt. Nach dem gemeinen Mord wurde Daidalos
nach Kreta verbannt. König Minos verpflichtete den genialen Handwerker zu
seinen Diensten. Die Königsgattin Pasiphae nutzte die Gegenwart Daidalos'
und beauftragte ihn, eine künstliche Kuh zu bauen, in die sie hinein
steigen könne, um sich von einem kräftigen Stier besteigen zu lassen. Aus
dem lustvollen Akt entsprang Minotaurus: der "zwiegestaltete
Mannsstier". Die Schmach und das Gespött der Untertanen müssen für König
Minos entsetzlich gewesen sein, weshalb er Daidalos, den "in der Kunst
berühmtesten Meister", damit beauftragte, ein Labyrinth zu bauen, in
dem die Chimäre versteckt werden sollte. Die Neugier eines jeden sollte tödlich
enden, wenn man sich in das Labyrinth hineinwagte.
Ariadne,
die Tochter des Königs, verliebte sich in Minotaurus. Aus Mitleid verriet
Daidalos, wie sie mit Hilfe eines Garnknäuels aus dem Labyrinth wieder
herausfinden könne. König Minos war über den Verrat erbost, sperrte
Daidalos und seinen Sohn Ikarus in das Innere des Labyrinths. Lediglich
einen freien Blick zum Himmel hatte das Verließ, wo die beiden den Flug der
Vögel beobachten konnten, die über dem Labyrinth ihre Kreise zogen. So kam
Daidalos die Idee, künstliche Flügel zu erschaffen, um gemeinsam mit
Ikarus dem Gefängnis zu entfliehen. "Frei bleibt mir der Himmel, und
so will ich fliehen! / Mag er auch alles besitzen, besitzt doch Minos die
Luft nicht!"
Mythen
bieten Raum für allerlei Interpretationen. Der Flug des Ikarus' ist eine
Allegorie für den Freiheitsdrang, für den Erfindergeist, der aus der Not
geboren wird, aber auch für die fatalen Folgen eines ungezügelten, überheblichen
Höhenrausches, für Allmachtsphantasien, der menschlichen Hybris. Ikarus
kam zu tödlichem Fall, nicht weil er sich die Kräfte der Natur zu eigen
machte, gleichsam sie nachahmte, den "Sinn der Natur" wandelte,
sondern weil er die Warnung seines Vaters in den Wind schlug und in seinem Höhenrausch
die Ehrfurcht vor den Naturgewalten verlor.
Der Mensch
pflegt seit je ein ambivalentes Verhältnis zur Natur; sie ist ihm das
Nicht-Begriffliche, das ihn in Bann hält, aber auch seine Existenz bedroht.
Für Hegel ist die Arbeit am Begriff der Natur ihre Aufhebung. Er bringt
damit den Logos der Naturwissenschaft auf den Punkt: Sie versucht Natur zu
begreifen, um die Menschheit vor ihren Bedrohungen zu schützen - aber auch,
um von ihr zu lernen, ihre Kräfte sich zu eigen zu machen für ein
unbeschwertes Leben.
Schutz ist
ein Urphänomen von Herrschaft. Technik ist die Antwort auf das Bedürfnis
nach Schutz, das der Mensch mit jedem Lebewesen teilt, aber er allein ist
aufgrund seiner intelligiblen Fähigkeiten imstande, im Verhalten der Natur
Gesetze zu erkennen und auf Basis des Wissens über die Natur Techniken zu
entwickeln, um sich aus der Natur herauszunehmen. Technik und
Naturwissenschaft haben mithin den Zweck der Beherrschung von Natur. Während
die Technik das Mittel zur Unterwerfung ist, leitet die Naturwissenschaft
als Herrschaftslogos die Technik an. Wer über sie verfügt, kann legitimen
Anspruch auf Herrschaft erheben, insofern er mit ihrer Hilfe den Schutz
aller oder wenigstens der Mehrheit garantieren kann. Denn Herrschaft beruht
auf Anerkennung.
Dem
zugrunde liegen ganz konkrete Bedürfnisse der Menschen. Naturwissenschaft
betreibt jedenfalls kein l'art pour l'art; sie schaut auf Natur mit ganz
bestimmtem Erkenntnisinteresse. Jede neue Technologie ist entstanden, weil
sie notwendig geworden war zur Lösung von allgemeinen Problemen. Umgekehrt
lässt sich auch sagen, für jedes neu entstehende Problem kann es eine
technische Lösung geben. Die Menschen stellen sich nämlich nur Fragen, die
sie zur gegebenen Zeit zu lösen auch imstande sind. Es werden nur
Technologien entwickelt, die tatsächlich auch benötigt werden. Im Begriff
der Notwendigkeit ist die Not enthalten, die gewendet werden soll. Technik
unterliegt mithin dem Primat des Nutzens. Aber unter dem Begriff des Nutzens
kann genauso das Wohlbefinden aller wie einzelner fallen - wie auch die
Kategorie des Profits, die mit Wohlbefinden vereinbar oder auch unvereinbar
sein kann. Nutzen ist demzufolge ein schillernder, ein unzureichender
Begriff, der sich die Frage nach dem cui bono gefallen lassen muss: Nutzen für
wen?
Naturwissenschaft
und Technik sind keine neutralen Ansich-Begriffe. Sie fügen sich in das
gesellschaftliche Ganze ein und werden bestimmt durch das
Vergesellschaftungsprinzip, das vorherrschend ist. Im Kapitalismus haben sie
eine dem Kapitalismus dienliche Aufgabe zu erfüllen. Das Primat des von
Profit und Verwertung bestimmten Nutzens leitet sie an und macht aus ihnen
eine bestimmte, d.h. kapitalistische Naturwissenschaft und Technik. Dass in
diesem Zusammenhang sowohl die Natur als auch die Allgemeinheit das
Nachsehen haben, liegt zwar auf der Hand, muss jedoch durchaus noch einmal
extra erwähnt werden. Die Natur verkommt im kapitalistischen
Verwertungssystem vollends zur Ausbeutungsressource, und der profitliche
Nutzen kommt wenigen zugute, während allen zunehmend die natürlichen
Lebensgrundlagen auf Dauer zerstört werden.
Die
Zweckrationalität der Naturwissenschaft und Technik ist längst unter den
Kategorien kapitalistischer Ausbeutung entfesselt, verselbständigt und
radikal geworden. Die verabsolutierte instrumentelle Vernunft bedroht das
Antlitz der Welt und offenbart ihre unermesslichen Destruktionspotentiale.
Theodor W. Adorno beschreibt deshalb den Verlauf der Geschichte als ein Verhängnis,
dessen Ausmaß von der Steinschleuder bis zur Megabombe reicht. Walter
Benjamin hat für diesen negativen Begriff der Geschichte die Allegorie des
angelus novus entworfen; - so heißt ein Bild von Paul Klee, das für
Benjamin Inspirationsquelle gewesen ist. Benjamin erkennt auf dem Bild einen
melancholischen Engel, der mit aufgerissenen Augen, offenstehendem Mund und
ausgespannten Flügeln auf das paradiesische "Antlitz der
Vergangenheit" starrt, von dem er sich wegbewegt. Ein Sturm wehe vom
Paradiese her, der Wind verfange sich in den Flügeln des Engels, der so
stark sei, dass der Engel es nicht vermag, seine Flügel zu schließen.
"Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine
einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie
ihm vor die Füße schleudert." Der Sturm treibt den Engel der
Geschichte unentwegt voran in die Zukunft, der er verhängnisvoll den Rücken
zugewandt hat. "Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser
Sturm."
Die
destruktiven Energien, die der Mensch mit Hilfe der Technik freigesetzt hat,
sind aber weder der Natur des Menschens noch der Technik anzulasten. Technik
ist genau so wenig böse, wie sie gut ist. Es kommt darauf an, wie, von wem
und für was sie eingesetzt wird. "Ist es immer noch nötig zu
betonen", fragt Herbert Marcuse, "dass nicht die Technologie,
nicht die Technik und nicht die Maschine Hebel der Unterdrückung sind,
sondern die ihnen innewohnende Gegenwart der Herren, die ihre Zahl, ihre
Lebensdauer, ihre Macht, ihren Platz im Leben und das Bedürfnis nach ihnen
bestimmt. Ist es immer noch nötig zu wiederholen, dass Wissenschaft und
Technologie die großen Vehikel der Befreiung sind und dass es nur ihr
Gebrauch und ihre Restriktion in der repressiven Gesellschaft sind, die sie
zu einem Vehikel der Herrschaft machen." - Ja, es scheint nötig zu
sein, dies immer wieder zu betonen. Denn es ist, als zäumte man das Pferd
von hinten auf, wenn man sich bloß fragt, inwiefern Technik die Zukunft der
menschlichen Natur sei, ohne den Kontext zu reflektieren, in dem die Technik
entwickelt wird und wir mit Natur umgehen. Wir müssen uns auch fragen, wie
wir uns eine unbeschwerte Welt und freie Gesellschaft vorstellen, die
Gebrauch von der Technik als "Vehikel der Befreiung" macht. Als
erstes muss mithin bestimmt werden, was ein würdevolles Leben, was Freiheit
ist. In einer restriktiven Gesellschaft können wir jedenfalls nicht
verhindern, dass die Technik in die Hände solcher Herren gelangt, die aus
ihr eine repressive Technik machen und diese als "Vehikel der
Herrschaft" verwenden, um die Vielen daran zu hindern, das unbeschwerte
Leben der Wenigen auf Kosten der Vielen, die davon ausgenommen sind, in
Frage zu stellen.
Auf den
Leib gerückt ist Technik längst. Das allein stellt noch nicht das Problem
dar. Technik darf sogar unter die Haut gehen, ohne ein Problem darzustellen.
Allein sie darf nicht die "Autonomie" des Menschen untergraben und
seine Würde antasten. Das hängt einzig vom Gebrauch der Technik ab. Ein
Herzschrittmacher kann das Leben verlängern; ein unter der Haut
eingepflanzter Chip zur Überwachung der Mobilität des Menschen wird das
Leben schwer machen.
Religiöser
Ethik, aus der eine Ablehnung der Technik erfolgt, weil sie einen ungebührlichen
Eingriff in Natur oder die Schöpfung darstelle, deshalb gleichsam
Blasphemie sei, möchte ich mit einer relativierenden Frage entgegnen: Was
ist überhaupt Natur? Jedenfalls ist Natur nicht das, was wir von ihr
begrifflich fassen. Oder anders formuliert: Das, was wir als Natur
begreifen, ist allenthalben "zweite Natur"; sie ist bereits
gesellschaftlich geformte und durch Technik veränderte Natur(-beziehung).
Wir können das, was nicht Gesellschaft ist, in Reinform nicht erfassen,
weil die Art und Weise, wie wir die Dinge erfassen, bereits gesellschaftlich
geprägt ist. Der gesellschaftliche Blick ist nicht ablegbar, und von ihm zu
abstrahieren schlechterdings nicht möglich. Der Begriff der Natur ist ihre
Aufhebung durch gesellschaftliche Überformung.
Wenn also,
dann stellt nicht erst Technik einen Eingriff in die Natur dar, sondern
Gesellschaft überhaupt. Wenn die Technik aus Gründen der Blasphemie
abzulehnen wäre, dann müsste aus demselben Grund auch das
gesellschaftliche Leben abgelehnt werden. Inwiefern allerdings die
Verfechter religiöser Ethik konsequenterweise auch dafür plädieren würden,
dass wir unsere Städte einreißen und zurück auf die Bäume klettern, wäre
noch einmal bei ihnen nachzufragen.
Ein
"Zurück zur Natur" kann es nicht geben. Das hatte auch Rousseau
nicht im Sinn; er forderte lediglich, dass der Natur des Menschen in der
Gesellschaft zu ihrem Recht verholfen wird. Die Natur des Menschen ist bei
Rousseau keine naturromantische Kategorie, sondern eine rechtsphilosophische
Chiffre für politische Freiheit. Staat und Gesellschaft sollen so
eingerichtet werden, dass die positiven, nicht die verwerflichen
Eigenschaften des Menschen zur Geltung kommen und in den Dienst des sensus
communis gestellt werden.
Der Technik
kommt in diesem Zusammenhang ein besonderer Stellenwert zu, der sich mit
Sigmund Freuds Kulturtheorie erschließt, die eine Antipode zu Rousseau
darstellt. Während für diesen der Mensch von Natur aus gut ist und erst in
einer schlechten Gesellschaft verwerflich werde, führt Freud das
Destruktivitätsproblem der menschlichen Gemeinschaft auf einen
Aggressionstrieb zurück. Gegen Marx wendet Freud ein, dass die Aufhebung
des Privateigentums der Destruktion lediglich ein Werkzeug entziehe, aber
das Problem dadurch nicht gelöst werde. Denn nicht nur die Herrschaftsverhältnisse
machten aus dem Menschen ein aggressives Wesen.
Das Unbewusste
und Triebhafte ist für den Begründer der Psychoanalyse eine viel größere
Quelle der Aggression. "Wo Es ist, soll Ich werden" ist deshalb
die programmatische Formel einer an Kant und Hegel geschulten,
psychoanalytischen Aufklärung, die um die dialektische Aufhebung innerer
Natur bemüht ist. Indem das Es begriffen wird, wird dessen Platz vom
gesellschaftsfähigen Ich eingenommen. "Die Schlüsselfrage der
Menschenart scheint mir zu sein", schreibt Freud, "ob und in
welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des
Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und
Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden."
Das Problem
der menschlichen Destruktivität im gesellschaftlichen Zusammenleben löse
die Menschheit durch Einschränkung ihrer individuellen Glücksmöglichkeiten,
um im Gegenzug größere Sicherheit gegen die Willkür der Naturgewalten und
der egoistisch handelnden Einzelnen zu erhalten. Wurden die Menschen zunächst
primär von der reinen Begierde nach Glück angetrieben, so erwies sich die
absolute Freiheit als Wunsch nach uneingeschränkter Befriedigung aller
Triebregungen als zu gefährlich für den kollektiven Selbsterhalt der Überlebensgemeinschaft.
Darum erfahre das reine Lustprinzip durch die Anforderungen der Realität
Einschränkungen. Das Streben nach Glück äußere sich fortan sekundär als
Bemühen, Leiden von sich fern zu halten.
Kultur umfasst
bei Freud begrifflich die Gesamtheit menschlicher Verrichtungen und
Institutionen, die einerseits das menschliche Leben von der Natur entfremden
zum Zwecke des Schutzes vor ihr, andererseits meint der Begriff die
Organisierung der menschlichen Beziehungen untereinander: ihre Kanalisierung
in Regeln und Gesetzen. Die Entwicklung des Zusammenlebens erfolge in immer
größeren Zusammenschlüssen, in denen die willkürliche Macht der
Einzelnen, die als rohe Gewalt erscheint, durch das Recht der Allgemeinheit
(Gesetze, Kulturgebote) abgelöst wird. Die kulturelle Forderung sei die der
Gerechtigkeit vermöge abstrakter und allgemeiner Rechtsgleichheit und der
Ausweitung der Rechtsgewalt auf die gesamte Bevölkerung (Demokratie).
Der
Freiheitsdrang der Individuen als Ausdruck sozialer und natürlicher Angst
vor Willkür fördere den kulturellen Prozess. Individuelle Freiheit
erscheine allerdings nicht als Kulturgut. Freud schreibt, dass die
individuelle, absolute Freiheit am größten vor aller Kultur gewesen ist. Während
des kulturellen Prozesses habe sie ihre notwendigen Einschränkungen
erfahren. Das Ideal der Gerechtigkeit fordere, dass allen Menschen
gleichermaßen diese Einschränkungen auferlegt werden sollen. Trotzdem
richte sich der individuelle Freiheitsdrang stets gegen die ihm auferlegten
Einschränkungen und hin und wieder gegen Kultur überhaupt. Angst der
Herrschenden vor dem Aufstand der Unterdrückten sei deshalb verständlich
und führe zu strengen Vorsichtsmaßnahmen unter Zuhilfenahme von
Wissenschaft und Technik. Die technischen Werkzeuge dienen also nicht nur
allgemein zur Steigerung des möglichen Glücks, sondern auch der Herrschaft
zur Repression unerlaubten Glücksstrebens, um die Kultur der Herrschenden
zu erhalten, d.h. die Vielen von den einzigartigen Glücksmöglichkeiten der
Wenigen fernzuhalten.
Der
Gebrauch von Werkzeugen, die Zähmung des Feuers (worin laut Freud ein
erster Triebverzicht zum Ausdruck kam), sowie der Bau von Wohnstätten führt
Freud als erste kulturelle Taten an. Wissenschaftlicher Fortschritt habe zu
einer immer wohlfeileren Technik geführt, die als Mittel der menschlichen
Gemeinschaft zum Schutz vor der Natur ihren Dienst erweise. Freud erkennt in
der Ausbildung immer besserer Werkzeuge einen Wunsch nach Allmacht. Der
Mensch vervollkommne durch den Einsatz technischer Mittel seine Organe, die
er gleichsam mit Prothesen ausstatte. Für künftige Zeiten prognostizierte
Freud, dass die Gottähnlichkeit des Menschen im Zuge des wissenschaftlichen
und technischen Fortschritts noch gewaltig zunehmen würde. Als
Prothesengott fühle sich der Mensch dennoch nicht glücklich. Das Leben in
der Kultur veranlasse Unbehagen. Da es aber kein Zurück zur Natur geben
kann, sei die Menschheit zu ihrem Dasein verurteilt.
Der Wunsch
nach Vollkommenheit ist der große Tagtraum der Menschheit. Erst projiziert
der Mensch diesen Wunsch auf seine Götter, die vollkommen gemacht werden.
Dann aber will der Mensch selbst wie Gott sein. In der
Zivilisationsgeschichte erkennen wir das daran, wie die Götter immer
menschlichere Züge erhalten, bis im Christentum der Mensch (Jesus) zum Gott
wird, dabei aber auch die Fehlbarkeit und Leidenschaft der Menschen repräsentiert.
Technik ist das Mittel, die Fehlbarkeiten und Schwächen des Menschen zu
kompensieren, gleichsam zu optimieren. Der Wunsch nach einem verlängerten
Leben, nach Verstärkung seiner Fähigkeiten und der Kompensation seiner
Schwächen vermöge der Technik ist allzu menschlich. In der Utopie der
Technik ist der Mensch ein Prothesengott - und dagegen zu sein, ist albern.
Kritisch
den Begriff der Optimierung zu hinterfragen, ist allerdings alles andere als
albern. Was kann Optimierung unter dem Primat des kapitalistischen
Leistungsprinzips im freiheitlichen Sinne bedeuten, da sich der Fortschritt
der Technik in diesem Dunstkreis zusehends vom Dienst der Menschheit
abkoppelt? Insofern scheint es sehr vernünftig zu sein, nicht nur darauf zu
warten, dass sich die Menschheit vom kapitalistischen Leistungsprinzip
befreit, sondern auch eine realpolitische Strategie ins Auge zu fassen.
Ethische Prinzipien, die sich am Menschen, nicht jedoch an dem
vermeintlichen Willen Gottes orientieren, rechtlich im Sinne eines
"Artenschutzes" für den Menschen zu verankern, kann eine
realpolitische Lösung sein, um sich gegen den Radikalismus
posthumanistischer - nicht humanistischer - Vervollkommnungsutopien zu schützen,
konkret etwa gegen rassistische Gentechnologie, die im Sinn hat, die
vermeintlich gescheiterte Aufklärung im Menschenpark und im Reagenzglas
abzulösen. Ein solcher Artenschutz könnte aber nicht gegen das Radikalste
schützen. Oder konsequent zu Ende gedachter Artenschutz müsste eine Norm
hervorbringen, gegen die der Kapitalismus allgemein verstößt und mithin
abzuschaffen wäre.
Die Technik
des Kapitalismus ist gleichsam tödlicher als kapitalistische Technik; sie
geht in den Körper und in die Psyche des Menschen ein und beraubt ihm
seiner Lebendigkeit. Besonders eindrucksvoll ist das in der Arbeitswelt zu
erkennen. Für die je spezifische Produktionsweise bedarf es einer je
spezifisch konditionierten Arbeitskraft. Mit der fordistischen Arbeitskraft
am Fließband entstand ein durch Technik verdinglichtes Individuum. Ähnliches
lässt sich im Militär beobachten: Der Mensch wir dort zu einer Kampf- und
Tötungsmaschine gedrillt. Verdinglichung ist die Technik des Kapitalismus,
aus dem Menschen ein Werkzeug zur Produktion und Destruktion von Werten für
den kapitalistischen Stoffwechselkreislauf zu machen. In diesem Kreislauf
werden die Menschen total verdinglicht. "Wogegen sie nicht ankönnen,
und was sie selber negiert, dazu werden sie selber", schreibt Adorno.
Antonio
Negri und Michael Hardt sprechen im Zusammenhang der Maschinisierung der
Arbeit von der Produktion des Cyborgs, einer modernen Form von Subjektivität:
corps sans organes sind Menschen ohne Eigenschaften. "Die Maschine ist
integraler Bestandteil des Subjekts, nicht als Anhängsel, als eine Art
Prothese, als eine unter vielen Eigenschaften; das Subjekt ist vielmehr
Mensch und Maschine seinem Wesen, seiner Natur nach." - Die Metapher
vom Cyborg korrespondiert ebenso mit dem, was Horkheimer und Adorno über
das durch die Maschine verdinglichte Denken schreiben: "Denken
verdinglicht sich zu einem selbsttätig ablaufenden, automatischen Prozess,
der Maschine nacheifernd, die er selber hervorbringt, damit sie ihn schließlich
ersetzen kann."
Während
Negri und Hardt allerdings im Cyborg ebenso die "subjektiven Formen der
Voraussetzung des Kommunismus in der Gegenwart" erkennen wollen,
scheint es der nüchternen Wahrheit näher zu sein, von einer an dieser
Stelle beginnenden Aporie der Verdinglichung als dem Ausdruck der Zerstörung
von Subjektivität zu sprechen. Gleichwohl ist es ebenso wichtig, auch die
positive Seite dieses Vorgangs mitzudenken. Marcuse merkt zu Recht an, dass
das Gespenst der Automation "bei Licht gesehen (...) das Gespenst einer
möglichen Humanisierung der Arbeit" sein kann, wenn der Mensch dadurch
nicht mehr "als Arbeitsinstrument zu funktionieren braucht".
Technik ist
mithin nicht die Zukunft der menschlichen Natur. Die Natur des Menschen ist
Technik bereits in der Gegenwart und war es auch schon in der Vergangenheit,
und es wäre dringend geboten, sich von der repressiven Beziehung zur
Technik zu befreien, damit sie als "Vehikel der Befreiung"
dienlich sein kann. Nicht Gen-, Nano- oder Biotechnologie sind die
wirklichen Steine des Anstosses, sondern die Frage, wie sie sich in den
gesellschaftlichen Fortschritt einfügen, damit dieser sich nicht unentwegt
als eine einzige Katastrophe fortsetzt. Allemal gilt es aber auch die aus
vorgeschichtlicher Zeit stammende Warnung stets zu beherzigen. Bertolt
Brecht hatte sie noch einmal kurz und prägnant zusammengefasst: "Nur
zu hoch nicht hinaus, es geht übel aus ..."
Artikel
komplett mit Quellenverzeichnis
*
Bemerkung:
Wir sind nicht gegen Technik, schlagen aber vor, statt auf äussere Technologie,
besser auf den Lichtkörper
zu setzen. Technik ist nicht die Zukunft der menschlichen Natur, sondern der
der Lichtkörper.